Autor: Emese Asztalos
Lage: Privatsammlung, Ungarn
Beschreibung: Als der Dichter János Erdélyi (1814-1868) Ungarn Mitte der 1840er Jahre verließ, um einen ehemaligen Schüler auf seiner Grand Tour zu begleiten, führte er den Reisekasten mit sich. Der Kasten fand während der Reise bequem auf dem Schoß seines Besitzers Platz und konnte auch in einem ungemütlichen Gästehaus benutzt werden. Er hat verschiedene Funktionen: Er dient als Schreibpult, Toilettentisch, Schatzkiste und als eine Art Arbeitsplatz, von dem aus Erdélyi Berichte über seine Reisen an ungarische Zeitschriften schickte. Neben Papier, Tinte, Briefen und Federn konnte er auch Toilettenaccessoires und geheime Habseligkeiten in sich bergen. Der Spiegel konnte beim Rasieren hilfreich sein, was für ungarische Adelige und Intellektuelle sehr wichtig war, die besonders stolz auf ihre Bärte waren.
János Erdélyi begann seine Karriere in den 1830er Jahren. Im neuen, zunehmend demokratischen Umfeld der ungarischen Gesellschaft war es möglich, dass ein begabter Junge aus einfachen Verhältnissen eine Schulbildung genoss und dadurch eine neue soziale und kulturelle Position in der ungarischen Literatur erreichte. Einstweilen schloss er seine Ausbildung zum Juristen ab und wurde von einer ungarischen Adelsfamilie als Hauslehrer angestellt. Er spürte den Zeitgeist und trug zur Durchsetzung des neuen Paradigmenwechsels im poetischen Diskurs bei. Zusammen mit Sándor Petőfi (einem der berühmtesten ungarischen Dichter) beteiligte er sich auf provokative und einfallsreiche Weise an der Entwicklung einer neuen, originellen und jungen Stimme in der ungarischen Sprache und Literatur. Zudem sammelte und veröffentlichte er erstmals authentische ungarische Volkslieder und schrieb selbst volksliedähnliche Gedichte. Die Vielseitigkeit und Multidisziplinarität seiner Interessen spiegeln sich in der Vielfältigkeit und Formenvielfalt seines Lebenswerks. Er war Journalist, Herausgeber, Kritiker, Gelehrter, Theaterregisseur, Lehrer, Essayschreiber und der Autor des ersten Lehrbuchs über ungarische Philosophie.
Nach dem Tod von János Erdélyis Ehefrau (1842) und seiner Tochter (1844) beschloss er – in der Hoffnung, sich so leichter von seiner Trauer zu erholen – sich seinem ehemaligen Schüler als Begleitperson auf seiner Grand Tour anzuschließen. Diese Art des Reisens war damals, wie auch auf dem Rest des Kontinents, zu einem regelmäßigen Bestandteil der aristokratischen Bildung in Mitteleuropa geworden, und Studenten machten sich so auf die Suche nach Kunst, Kultur und den Wurzeln der westlichen Zivilisation. Durch diesen neuen, fremden Horizont konnten sie ihre Erfahrungen auf ergiebige Weise mit der osteuropäischen Kultur, die als Beispiel hingestellt wurde, vergleichen und auch – auf Basis des Gelernten – ihren „Nationalgeist“ wiederbeleben und umgestalten (oder versuchen, ihn umzugestalten). Ihre aristokratischen Verbindungen und monatelangen (oder jahrelangen) Reisen erlaubten es ihnen, hauptsächlich in Deutschland, Frankreich, England oder Italien Museen zu besuchen und ihre Sprachkenntnisse zu erweitern. Bevor er seine fast zweijährige Europarundreise unternahm, hatte Erdélyi auch eine andere Art des modischen Reisens betrieben, die sogenannte „Heimattour“, im Zuge derer er die Regionen seines Heimatlands kennenlernte, wie es 1839-40 und 1846 Franz Liszt ebenfalls in Ungarn tat. Vermutlich ließ Erdélyi seinen Reisekasten ursprünglich zu diesem Zweck (von einem unbekannten Handwerker) Ende der 1830er Jahre anfertigen. Wegen der Umstände und Dauer solcher Reisen, der Unannehmlichkeiten der Pferdewagen und Gasthöfe und des Verlangens, Aussichten und Eindrücke auf der Stelle aufzuzeichnen und zu notieren, war es unerlässlich, angemessene Ausrüstung wie den Reisekasten bei sich zu haben.
Der Kasten stellt auf allgemeinere Weise die Reisegewohnheiten des 19. Jahrhunderts dar und kann als ein Stück Alltagsgeschichte angesehen werden oder aber als ein spezielles Objekt der „Erinnerungsorte“ (in dem Sinn, dass es sich um ein symbolisches Element des Erinnerungsgutes und der Reformzeit der ungarischen Gemeinschaft handelt). Er verfügt zudem über weitere metaphorische Ebenen. Seine Funktion als Schreibpult betont Erdélyis Methode, die fremde Atmosphäre sowie seine eigenen Gedanken, sozialen Formen und kulturellen Motive zu archivieren, um sie zu bewahren und seinen Landsleuten mitzuteilen. Er steht auch für die offene Geisteshaltung von Erdélyis Reise: In jedem Land, das er besuchte, sammelte er Bücher, Kupferstiche, Nachbildungen berühmter Statuen und Ölgemälde. Dieses „Konsumverhalten“ ist mit dem Wunsch verbunden, sein Heimatland umzugestalten und zu verbessern. Als ein romantischer Pilger besuchte Erdélyi nicht nur Ausstellungen, Museen und Theater, sondern bereiste alle wichtigen literarischen und historischen Gedenkorte. Der Reisekasten ist eine Art Beweisstück oder Wahrzeichen für den Prozess, im Zuge dessen ein Intellektueller aus der Habsburgermonarchie zu einem europäischen Bürger wurde, und für die Rolle des Reisens als Teil der Bildung und genauer noch der Selbstbildung. Die Romantik und romantische Motive, Orte und Gedanken (wie die Ausbrüche des Vesuvs, die raue See, oder sein Treffen mit Jacob Grimm) waren zum Teil tiefgreifende, konkrete Erlebnisse, die auf dem Schreibpult des Reisekastens reflektiert und neu dargestellt wurden.
Als Folge der ungarischen Geschichte (Unabhängigkeitskrieg im 19. Jahrhundert, Weltkriege, Sowjet-Regime etc.), der Zerstörungen und Verstaatlichungen, ist es etwas Besonderes, private Sammlungen vorzufinden, vor allem solche, die an das Zeitalter der Romantik erinnern. Erdélyis Reisekasten befindet sich im Besitz der Enkeltochter des Dichters, Ilona Erdélyi T. (Doktorin der Literaturwissenschaft, Professorin emerita), die sein Lebenswerk betreut, interpretiert und bewahrt. Das Bild und die Geschichte dieses Reisekastens wurden bis heute noch nie veröffentlicht.
Datum: 1830er Jahre
Urheber: Unbekannt
Thema: János Erdélyi
Medienrechte: Foto von Monika Sziklay Cs. Objekt im Besitz von Ilona Erdélyi T.
Objekttyp: Reisekasten
Format: Holz
Edition: Ilona Erdélyi T.