Narzissas Grab

Autor: Catriona Seth

Lage: Jardin des Plantes, Montpellier, France

Beschreibung: Das Gedicht The Complaint: or Night-Thoughts on Life, Death & Immortality von Edward Young, veröffentlicht zwischen 1742 und 1745, zog Leser aus ganz Europa in seinen Bann. Während ziemlich schnell eine relativ getreue deutsche Fassung erschien, ließ die erste französische Übersetzung in Buchlänge bis 1769 auf sich warten – es handelte sich um eine freie Bearbeitung durch Le Tourneur, die über die Jahre mehrmals neu aufgelegt wurde. Von Rousseau über Robespierre und Germaine de Staël bis hin zu Bonaparte, ungeachtet von gesellschaftlichem Stand oder politischen Neigungen – alle lasen sie Les Nuits.

Das zweite Frontispiz der so oft nachgedruckten französischen Ausgabe, in vielerlei Hinsicht ein Vorläufer der Illustrationen der Schauerromane, zeigt „Young beim Begraben seiner Tochter“. Dies bezieht sich auf eine denkwürdige Episode des Gedichts: Nachdem sie um ihrer Gesundheit willen in sonnigere Gefilde gebracht worden ist, stirbt Narzissa. Sie kann in einem katholischen Land nicht in geweihter Erde begraben werden, und so begräbt sie ihr Vater heimlich in der Nacht. Der Gedanke, dass Young (anstatt eines poetischen Ichs) eine Ruhestätte für eine schöne Frau suchen musste, die in der Blütezeit ihrer Jugend verstorben war, stellte zu einer Zeit, als die Macht der Kirche in Frankreich zusehends angefochten wurde, ein mächtiges Bild zur Verurteilung religiöser Tyrannei dar.

Es wurde in einer Fußnote zur französischen Übersetzung angedeutet, dass sich das Ereignis in Montpellier abgespielt hätte, einer Stadt, die für ihre medizinische Fakultät und ihr warmes Klima bekannt war. Ausländische Reisende auf der Suche nach der Stelle wurden von Einheimischen, die behaupteten, den Ort der heimlichen Zeremonie zu kennen, durch die botanischen Gärten geführt. Die Anwesenheit von Gesundheitstouristen, die oft an Tuberkulose oder ähnlichen Erkrankungen litten, machte Narzissas Schicksal wohl besonders ergreifend. Viele waren bereit, sich mit Aspekten ihrer Sterbegeschichte zu beschäftigen. Die sentimentale Erzählung über ein junges Mädchen, dem aus Intoleranz ein Grab verwehrt worden war, schien zweifelsohne besonders relevant. 1787 gestand das Toleranzedikt den Protestanten und Juden in Frankreich Bürgerrechte zu und signalisierte so das offizielle Ende der religiösen Verfolgung. Im selben Jahr veröffentlichte das Journal de la généralité de Montpellier Briefe, in denen Narzissas Begräbnisstätte und die Frage, ob man ein Grab errichten solle, diskutiert wurden. Die Briefe stellen dies eher als eine öffentliche Wiedergutmachung an Young, dem Dichter – dem Genie –, als an dem toten Mädchen oder dem trauernden Vater dar, eine implizite Veranschaulichung der Bedeutung des künstlerischen Ausdrucks anstelle tatsächlicher Ereignisse. In konservativen Kreisen löste der Gedanke, dass auf nicht geweihter Erde ein Denkmal an eine Häretikerin errichtet werden sollte, einiges Unbehagen aus.

Der Legende von Narzissas Begräbnis wurde dadurch Glaubwürdigkeit verliehen, dass im Jardin des Plantes in Montpellier scheinbar die Überreste eines Skeletts entdeckt wurden. Ergreifende Geschichten können auch zu Werbegelegenheiten werden. Die Gärtner von Montpellier waren nicht abgeneigt, Besuchern ihre Dienste in Rechnung zu stellen. Einigen Berichten nach gedieh ein morbider Handel, bei dem Studenten der medizinischen Fakultät bereitwillig und je nach Nachfrage Knochen lieferten. Die ganze Angelegenheit erinnert an Debatten über mittelalterliche Reliquien und die profitorientierte Vermarktung von Wallfahrtsorten.

Schon früh wurden Zweifel an der Vorstellung geäußert, Young hätte seine Tochter mit bloßen Händen in einem unmarkierten Grab zur Ruhe legen müssen, doch dies hielt Künstler nicht davon ab, das Ereignis darzustellen: Bekannt sind zum Beispiel Werke von Loutherbourg, einem Franzosen, der den Großteil seiner Karriere in England verbrachte, aus dem Jahr 1790, oder von seinem Landsmann Vafflard aus dem Jahr 1804. Viele Kommentatoren merkten an, dass der Wahrheitsgehalt der Erzählung nicht wichtig sei: Es reichte aus, dass sie Gefühlsregungen hervorrief – und sie rief Gefühlsregungen in Besuchern aus ganz Europa hervor.

Im Zeitalter Napoleons wurde ein Denkmal zu Ehren Narzissas errichtet. Vorangetrieben wurde das Projekt unter anderem von zwei Schauspielern der Comédie Française, Charlotte Vanhove und dem berühmten François-Joseph Talma, der Youngs Werke als maßgebenden Einfluss auf seine Identifikation mit der Figur des Macbeth ansah. Dabei galt es zunächst, den Widerstand jener zu überwinden, die fürchteten, dass eine falsche Überlieferung zelebriert wurde, doch 1819 wurde Narzissas Grab schließlich von einem englischen Besucher, dem Herzog von Gloucester, feierlich eröffnet. Frankreich befand sich fest im Griff der Romantik. Die französische Gesetzgebung zu Begräbnissen hatte Friedhöfe in abgelegene Vororte gedrängt, und der Gedanke einer Pilgerfahrt zu einem einzelnen Grab war dabei, sich einzubürgern. Während sich das Land von der Revolution erholte, dachte man in Frankreich an jene, die fern der Heimat gestorben waren und die man manchmal an unmarkierten Stellen begraben hatte. Narzissa wurde so zum Sinnbild für die Opfer des Schicksals.

John Murrays Handbuch für Reisende nach Frankreich, das Handbook for Travellers aus dem Jahr 1840, das auf seinen Reisen im vorausgegangenen Jahrzehnt basiert, enthält einige Details zum Denkmal mit seiner Tafel und seinem Rankgitter. Es wird vermerkt: „Es ist als das Grab von Mrs Temple ausgewiesen, der Adoptivtochter des Dichters Young, die hier plötzlich verstarb, zu einer Zeit, als die grausamen Gesetze, die mit dem Widerruf des Edikts von Nantes einhergingen, mit dem Rückhalt einer fanatischen Bevölkerung Protestanten ein christliches Begräbnis verweigerten.“ Young wird ausführlich zitiert, bevor ein etwas prosaischerer Schluss folgt: „Es wurden Belege erbracht, dass Narzissa (Mrs Temple) tatsächlich in Lyon begraben wurde.“ Das ist vollends richtig: Youngs Stieftochter, die entfernte Vorlage für die poetische Narzissa, tat ihren letzten Atemzug in Lyon und wurde im Schweizer Protestantenfriedhof begraben.

Bis zum heutigen Tag gedenkt in Montpellier ein grabähnliches Bauwerk mit der Inschrift Placandis Narcissae manibus und einer Tafel mit Zitaten aus den Night-Thoughts auf Französisch der toten Frau. Die Manen von Narzissa mögen besänftigt worden sein – und Schriftsteller wie der romantische Autor Alfred de Musset oder, Jahrzehnte später, Paul Valéry und André Gide von ihrer Geschichte und ihrem „Grab“ inspiriert – doch Young hat hier nie eine Tochter begraben. Diese Geschichte ist eine Würdigung der Einbildungskraft, jener von Young beim Verfassen seiner Complaint, aber auch jener der gewöhnlichen Leser, eine letzte Ruhestätte für niemanden, aber ein Denkmal an ein Papieropfer, an die Quelle vieler Träume und Reflexionen. Der Tourismus der Romantik auf dem Kontinent, nicht die Grand Tour, die Besucher zu den verfallenen Bädern von Caracalla oder Hadrians Villa bei Tivoli trieb, war auch manchmal ein literarischer Tourismus, bei dem Fiktion statt historischen Fakten die Vermittlerin und die Quelle des Erstaunens war.

Datum: 1819

Thema: Edward Young

Medienrechte: Linda Gil

Objekttyp: Grab

Format: Steinernes Bauwerk