Rousseaus Falltür

Rousseaus Falltür

Autor: Nicola J. Watson

Lage: Restaurant und Klosterhotel St. Petersinsel, Bielersee, Schweiz

Beschreibung: Eine hölzerne Falltür, im Boden eingelassen im Eck eines Schlafzimmers im ersten Stock des einzigen Bauernhauses auf der St. Petersinsel im Bielersee in der Schweiz. Sowohl ihr Entstehungsdatum als auch ihre ursprüngliche Verwendung sind unbekannt. Berühmt wurde sie im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts durch ihre Verbindung zum Philosophen, Romanautor und Essayisten Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), vor allem durch seine posthum veröffentlichten autobiographischen Schriften: dem letzten Teil seiner Bekenntnisse (erstmals 1789 veröffentlicht) und dem Essayband mit dem Titel Les Rêveries du promeneur solitaire (Die Träumereien des einsamen Spaziergängers, verfasst zwischen 1776 und 1778, veröffentlicht im Jahr 1782). Die fünfte „Träumerei“ befasst sich ausführlich mit Rousseaus sechswöchigem Aufenthalt im Bauernhaus auf der St. Petersinsel im Sommer 1765, bevor er als politisch Unerwünschter ausgewiesen wurde und nach England aufbrach. Sowohl die Bekenntnisse als auch die Träumereien beschreiben diesen Sommer als eine idyllische Pause in einer Reihe von Verfolgungen und Exilen.

Diese Falltür wurde berühmt, weil sie zum Sinnbild für Rousseaus Aufenthalt auf der Insel wurde. Für Rousseau bot die Insel eine Möglichkeit zur Flucht. Die Falltür veranschaulicht diese Möglichkeit, denn sie soll ihm als Fluchtweg vor unerwünschten Besuchern gedient haben. Ihren Ursprung hat diese Geschichte noch vor der Veröffentlichung der Bekenntnisse oder der Träumereien. Die Falltür selbst wurde erstmals 1777 von einem Mann namens M. Desjobert erwähnt, der einen Bericht über seine literarische Pilgerfahrt zu Stätten mit Bezug zum Autor verfasste, in dem auch sein Besuch in Rousseaus Schlafzimmer enthalten war. Elf Jahre später, im Jahr 1788, wurde die Geschichte erstmals um den Zusatz erweitert, dass Rousseau die Falltür genutzt habe, um „lästigen Leuten“ zu entgehen. Die Anzahl lästiger Leute, die das Bauernhaus besuchten, stieg über die nächsten zwanzig Jahre weiter an und brachte der Familie wohl ein stetes Einkommen: 1822 vermerkte Louis Simond ziemlich verbittert, dass das Bauernhaus inwischen zu einem „Wirtshaus für neugierige Reisende“ geworden war und dass „eine beleibte Schweizer Schönheit, unsere Zimmerwirtin, uns Rousseaus Zimmer zeigte, in dem Zustand, in dem er es verlassen hatte, sehr spärlich möbliert, und die Wände vollgekritzelt mit … begeisterten Schwärmereien über den Genfer Philosophen“ (I, 62-3). Die Reste dieser Unterschriften und Ergüsse sind noch immer sichtbar. Das touristische Interesse an der Insel war groß genug, um schon im Jahr 1815 die Veröffentlichung eines Reiseführers zu rechtfertigen, L’Île S Pierre dite L’Île de Rousseau, dans le lac de Bienne à Berne, verfasst von „Sigismond Wagner“. Die darin enthaltene Geschichte der Falltür verrät noch mehr Einzelheiten. Nach einer Beschreibung der Aussicht aus dem Fenster wird Folgendes vermerkt:

Outre de l’agrément de cette vue, un avantage particulier avoit décidé Rousseau à donner la preference à cette chamber sur toutes les autres de la maison, c’étoit un escalier dérobé qui conduisoit, au moyen d’une trappe, dans une chamber du rez-de-chaussée et de-là dans la campagne. Rousseau s’échappoit souvent par cette issue, quand le bruit qui se faisoit dans le corridor l’avertissoit de l’approche de quelque visite importune, et se hâtoit de se soustraire à leur vaine curioisité, en se réfugiant dans les endroits les plus solitaires du bois… (74).

[Nebst der Anziehungskraft dieses Ausblicks war es vor allem ein Vorteil, der Rousseau dieses Zimmer allen anderen im Hause vorziehen ließ, nämlich eine geheime Treppe, die von einer Falltür aus in ein Zimmer im Erdgeschoß führte und von dort hinaus in die Landschaft. Rousseau entfloh oft durch diesen Ausweg, wenn der Lärm im Korridor ihn vor irgendwelchen lästigen Besuchern warnte, und er entwischte eilig ihrer eitlen Neugier, indem er an den abgeschiedensten Stellen im Walde Zuflucht suchte…]

Im Jahr 1819 hatte diese Geschichte soweit Fuß gefasst, dass sie als Grundlage für eine Darstellung des Schlafzimmers in Vues de différentes habitations de J. J. Rousseau diente, welche den Philosophen dabei zeigt, wie er durch die Falltür im Boden verschwindet, um den gut gekleideten Besuchern zu entgehen, die durch die Tür treten, um ihre Ehre zu erweisen.

Für Rousseaus Bewunderer und jene, die ihn zum Mythos hochstilisierten, wurde die Falltür zum Sinnbild für die notorische Abneigung des Philosophen vor der gesellschaftlichen Überwachung und seine Vorliebe für die Freuden seiner eigenen Vorstellungskraft und vor allem seiner Träumereien. Die Bekanntheit der Falltür belegt auch ein Verlangen der Leser, sich kurzzeitig wie Rousseau fühlen zu können, indem sie sein Phantasiebild der St. Petersinsel als einen Ausweg aus den Zwängen der Welt teilen. Auf etwas abstraktere Weise verstärkte die Falltür das inzwischen beliebt gewordene Erlebnis, den Wohnort eines verstorbenen Autors zu besuchen; sie suggerierte, dass Touristen Rousseau deswegen nicht zuhause antrafen, weil er eilig und typischerweise verschwunden war, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Falltür verkörpert so im Kleinformat das neu entstehende Phänomen des literarischen Tourismus im Zeitalter der Romantik: den Wunsch, das Gelesene um einen Besuch der vom Autor beschriebenen Schauplätze zu ergänzen, um sich so in noch größerem Maße in dessen Innerlichkeit hineinzufühlen. Der Bekanntheitsgrad dieses Ortes belegt die europaübergreifende kosmopolitische Anziehungskraft der Möglichkeit, sich wie Rousseau zu fühlen, die Bewunderer aus ganz Europa und Russland erfasste.

Urheber: Unbekannt

Datum: Unbekannt

Thema: Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)

Medienrechte: Foto von Nicola J. Watson

Objekttyp: Gebäude

Format: Holz und Metall

Sprache: Entfällt

Edition: Autor

Literaturverzeichnis

Simond, Louis, Switzerland; or, A Journal of a Tour and Residence in that Country, in the years 1817, 1818, and 1819: followed by An Historical Sketch on the manners of Ancient and Modern Helvetia in which the events of our own time are fully detailed, together with the causes to which they may be referred. 2 Bde. London: John Murray, 1822.

Sigismond Wagner [Sigmund von Wagner], L’Île Saint-Pierre ou L’Île de Rousseau. Hrsg. und mit einer Einführung von Pierre Kohler. Lausanne: Editions SPES, o. J.

Vues de différentes habitations de J.J.Rousseau. Paris: o. O., 1819.